Eine neue „Prawda“?
Michael Shellenberger und der Zensur-Industrie-Komplex
Die Präsidentin der Europäischen Kommission, Ursula von der Leyen, beschwört regelmäßig die Meinungsfreiheit als unantastbaren Grundpfeiler der europäischen Demokratie. In einem aktuellen Post auf der Plattform X schrieb sie wörtlich: „Freedom of speech is the foundation of our strong and vibrant European democracy. We are proud of it. We will protect it.“ Auf Deutsch schrieb sie am 24. Dezember: „Die Meinungsfreiheit ist das Fundament unserer starken und lebendigen europäischen Demokratie. Wir sind stolz darauf. Wir werden es schützen. Denn @EU_Commission ist der Hüter unserer Werte.“ Die Frage darf und muss schon jetzt erlaubt sein, von wessen Werten sie spricht. Ihre Aussage ist jedenfalls keine Randbemerkung, sondern Teil der offiziellen Kommunikationsstrategie der Kommission – und sie steht in einem bemerkenswerten Spannungsverhältnis zur Realität der politischen, regulatorischen und medialen Entwicklung in der EU.
Auf den ersten Blick ist die Botschaft eindeutig: Meinungsfreiheit ist ein Wert, den Europa hochhält. Doch der genaue Blick auf den Kontext dieser Beteuerung zeigt einen tieferen, strukturellen Widerspruch. In Brüssel und den Hauptstädten der EU-Mitgliedstaaten wird nicht nur über den Schutz der freien Rede gesprochen, wie es unter anderem bei Alfapress nachzulesen ist. Gleichzeitig ist seit einigen Jahren eine zunehmende Regulierungsdichte und Aufbau von Kooperationsmechanismen zwischen EU‑Institutionen, EU‑Mitgliedstaaten und Privatwirtschaft in Sachen „Sicherung der Meinungsfreiheit“ zu beobachten. Ergänzt wird diese Aussage jedoch mit einer neuen semantischen Ebene, die aufhorchen lässt: der des Risikos und der Gefährdung der Meinungsfreiheit – alles im Kontext genau jener Werte, die von der Leyen unlängst formulierte.
Rhetorik als Reflexionsrahmen
Die wiederholte Betonung der Meinungsfreiheit ist nicht zufällig. Sie dient einem Narrativ, einem Erzählungsrahmen, der den demokratischen Selbstanspruch der EU-Institutionen nach außen kommuniziert – und innen als normative Basis für politische Maßnahmen herangezogen wird. Dabei wird Meinungsfreiheit nicht mehr allein als rechtsstaatliches Schutzrecht verstanden, sondern als objektivierbares Gefährdungspotenzial: etwas, das geschützt, verwaltet und im Zweifel eingeschränkt werden muss, um „Schäden“ von der Demokratie abzuwenden. Dieses Muster findet sich auch in offiziellen Strategiedokumenten wie dem „Europäischen Schutzschild für die Demokratie“, den die Kommission vorgelegt hat: Dort wird betont, dass demokratische Werte – einschließlich der freien Meinungsäußerung – vor Bedrohungen geschützt werden müssen, indem zivilgesellschaftliche Akteure, Medien und digitale Plattformen in einer Weise adressiert und reguliert werden, die über klassische Rechtsstaatlichkeit hinausgeht. Diese Rhetorik widerspricht nicht formell dem Grundrecht auf freie Meinungsäußerung, wie es in der EU-Grundrechtecharta verankert ist. Sie erweitert den Horizont aber dahin, dass Meinungsfreiheit nicht mehr nur ein Abwehrrecht gegen staatliches Handeln ist, sondern ein Schutzbereich, der aktiv verwaltet werden soll.
Schutz versus Einschränkung
Damit wird bereits im öffentlichen Selbstverständnis etwas grundlegend verschoben: In klassischen rechtsstaatlichen Demokratien heißt „Meinungsfreiheit“ primär, dass der Staat nicht unbegründet in die Rede der Bürger eingreift. In der aktuellen politischen Rhetorik hingegen wird Meinungsfreiheit zunehmend als etwas dargestellt, das nicht nur geschützt, sondern komfortabel gestaltet werden muss – was Legitimität und Akzeptanz einschließt. Ein aktuelles Beispiel dafür ist der Umgang mit internationalen Spannungen: Als die US-Regierung unter Verweis auf angebliche „Zensurbemühungen“ Einreiseverbote gegen mehrere Europäer verhängte, darunter Persönlichkeiten, die am Digital Services Act (DSA) beteiligt waren, und die Leiterinnen einer deutschen NGO, reagierte die EU-Kommission scharf. Sie verurteilte das Vorgehen als Angriff auf die Meinungsfreiheit und als unakzeptabel. Gleichzeitig betonte sie, gemäß der Tageszeitung „Die Welt“, dass die Meinungsfreiheit ein gemeinsamer Wert sei, den Europa und die USA teilen müssten. Die Ironie liegt auf der Hand: Einerseits wird „Freiheit der Meinungsäußerung“ als fundamentaler Wert propagiert, andererseits hat die EU selbst ein komplexes Regel- und Sanktionssystem etabliert, das genau dort ansetzt, wo diese Meinungsäußerung nach außen wirkt – bei digitalen Plattformen, bei internationalen Diskursen, bei institutionellen Akteuren.
Fehlende Reflexion oder Absicht?
In der gegenwärtigen europäischen Debatte fehlen in solchen Beteuerungen oft kritische Selbstreflexionen zu inneren Entwicklungen: Die notwendige Debatte über die Rolle des Digital Services Act (DSA) im Verhältnis zur freien Rede wird von den Beteuerungen, zur Meinungsfreiheit zu stehen, rhetorisch entkoppelt. Diskussionen über Kontosperrungen, Debanking oder Sanktionspotenziale für Akteure, die mit digitalen Inhalten arbeiten, werden eher als „Einzelfälle“ abgetan statt als strukturelles Versagen.Nichtregierungsorganisationen (NGOs), die normativ im Auftrag der Zivilgesellschaft agieren, werden als Garanten der demokratischen Öffentlichkeit gefördert, ohne dass ihre Rolle bei der Normsetzung und Inhalteselektion transparent diskutiert wird. Gleichzeitig postuliert die politische Führung, dass Meinungsfreiheit nicht nur ein Wert, sondern ein Element der demokratischen Resilienz sei – also etwas, das es zu bewahren und zu stärken gilt, wenn weitere „risikobehaftete“ Kommunikationsformen auftreten. Diese Doppelstrategie – Proklamation und dem entgegengesetztes Handeln – erzeugt eine innere unglaubwürdige Spannung im Selbstverständnis der EU. Dadurch wird ein tieferer Konflikt sichtbar. Einerseits der formulierte Anspruch, die EU verstehe sich als Hüterin der Meinungsfreiheit. und dem gegenüber die tatsächliche Praxis, in der die EU Mechanismen schafft, mit denen Meinungsäußerung systematisch reguliert, priorisiert, beschrieben und manchmal faktisch eingeschränkt wird. Dieser Widerspruch ist kein Zufall. Er ist strukturell. Er betrifft nicht nur, was gesagt wird, sondern auch, wie Meinungsfreiheit heute von der EU verstanden wird: als „ihre Meinungsfreiheit“, die es zu schützen gilt. Der Ursprungsgedanke der Meinungsfreiheit als Abwehrrecht des Bürgers gegenüber staatlicher Macht, wird umgedeutet in ein fragiles Gut, welches durch Gesetze und Verordnungen beschützt und dessen Rahmenbedingungen politisch gesetzt und kontrolliert werden. Und genau diese methodische Verschiebung bildet die Grundlage für die folgenden Kapitel, in denen wir Schritt für Schritt erklären, aus diesem Anspruch ein System mit realen Effekten entsteht.
Der Journalist Michael Shellenberger – Analyst eines (medien-)politischen Phänomens
An dieser Stelle lohnt es sich, die bisher beschriebene europäische Rhetorik nicht isoliert zu betrachten, sondern sie mit einer Analyse zu konfrontieren, die außerhalb Europas entstanden ist – und gerade deshalb aufschlussreich ist. Der US-Journalist und Publizist Michael Shellenberger prägte für die Entwicklungen in den Vereinigten Staaten den Begriff des „censorship-industrial complex“, des Zensur-Industrie-Komplexes. Michael Shellenberger wurde einem größeren Publikum gemeinsam mit Matt Taibbi bekannt, als beide zusammen die Twitter Files veröffentlichten.
Shellenberger beschreibt damit kein einzelnes Gesetz und keine singuläre Maßnahme, sondern ein System: ein arbeitsteiliges Geflecht aus staatlichen Stellen, sicherheitsnahen Behörden, Forschungseinrichtungen, Nichtregierungsorganisationen und privaten Plattformbetreibern, das unter dem Vorzeichen der „Desinformationsbekämpfung“ darauf hinwirkt, Inhalte zu klassifizieren, zu priorisieren, herabzustufen oder zu entfernen. Entscheidend an seiner Beobachtung ist, dass Zensur in diesem Modell nicht mehr als offener staatlicher Akt erscheint, sondern als administrativ organisierter Prozess, der sich selbst als Schutzmaßnahme legitimiert. Gegenüber dem „Sonderausschuss des US-Repräsentantenhauses zur Instrumentalisierung der Bundesregierung“ sagte Shellenberger Folgendes aus:
„The censorship-industrial complex is a system of networks that have worked together to censor content under the guise of combating misinformation“
Auf Deutsch: „Der Zensur-Industrie-Komplex ist ein Netzwerk ideologisch ausgerichteter staatlicher, nichtstaatlicher und akademischer Institutionen, die die Macht der Zensur entdeckt haben, um ihre eigenen Interessen gegen die Volatilität und Risiken des demokratischen Prozesses zu schützen.“
Damit macht Shellenberger zweierlei deutlich: Erstens, dass Zensur in modernen Demokratien nicht mehr notwendig als offener staatlicher Akt erscheint. Zweitens, dass sie sich gerade dadurch der klassischen rechtlichen und politischen Kontrolle entzieht. In seinen Analysen und Publikationen beschreibt er zudem, dass staatliche Stellen und mit ihnen verbundene Akteure nicht neutral beobachteten, sondern aktiv auf Plattformen einwirkten. Ebenfalls in den Unterlagen des Sonderausschusses ist folgende Aussage dokumentiert:
„EIP and its successor, the Virality Project (VP), urged Twitter, Facebook, and other platforms to censor social media posts by ordinary citizens and elected officials alike.“ Auf Deutsch: „Das Partnerschaftsprogramm für Wahlintegrität“ (EIP kurz für Election Integrity Partnership) „und sein Nachfolger, das Virality Project (VP), drängten Twitter, Facebook und andere Plattformen dazu, Social-Media-Beiträge von normalen Bürgern und gewählten Amtsträgern gleichermaßen zu zensieren.“
Besonders relevant ist dabei Shellenbergers Beschreibung der Funktionsweise dieses Systems. Er betont bei seiner erneuten Anhörung im Kongress durch den Justiz-Ausschuss zum Thema des Zensur-Industrie-Komplexes, dass es nicht um punktuelle Eingriffe gehe, sondern um dauerhafte Prozesse, die Sichtbarkeit, Reichweite und ökonomische Tragfähigkeit von Meinungsäußerungen beeinflussen:
„Censorship today does not usually look like bans. It looks like de-amplification, demonetization, account suspensions, and algorithmic suppression.“ Auf Deutsch: „Zensur äußert sich heute in der Regel nicht in Form von Verboten. Sie zeigt sich vielmehr durch Reichweitenbegrenzung (De-Amplifikation), Entmonetarisierung, Kontosperrungen und algorithmische Unterdrückung.“
Das Zitat ist Teil einer breiteren Beweisführung, mit der Shellenberger belegte, dass seiner Meinung nach staatliche Stellen die verfassungsmäßig garantierte Redefreiheit (First Amendment) umgangen haben, indem sie Druck auf private Unternehmen ausübten. Diese Beobachtung ist zentral. Sie verschiebt den Fokus weg von der Frage formaler Verbote hin zur praktischen Wirksamkeit politisch-administrativer Steuerung. Meinungsfreiheit bleibt nominell bestehen, während ihre tatsächliche Reichweite technisch, wirtschaftlich und institutionell begrenzt wird.
Shellenbergers Analyse bezieht sich ausdrücklich auf die USA und auf die politische Praxis der Biden-Administration. Sie folgt dem amerikanischen Verständnis von Meinungsfreiheit als Abwehrrecht gegen staatliche Einflussnahme. Gerade deshalb ist sie für den europäischen Kontext aufschlussreich. Denn was Shellenberger als informelles Netzwerk beschreibt, findet in der Europäischen Union eine formalrechtliche Entsprechung: nicht über verdeckte Einflussnahme, sondern über kodifizierte Regulierung, Risikoklassifikationen und Sanktionsmechanismen – insbesondere im Rahmen des Digital Services Act.
Damit ist kein Gleichsetzen behauptet, wohl aber eine funktionale Parallele benannt. Die Wirkung, die Shellenberger für die USA beschreibt – strukturelle Unterdrückung politisch unerwünschter Meinungen ohne formales Verbot –, lässt sich auch dort beobachten, wo Meinungsfreiheit ausdrücklich beschworen wird, während ihre Rahmenbedingungen administrativ neu definiert werden.
Diese Einschätzung blieb im politischen Raum der Vereinigten Staaten nicht ohne Resonanz. In mehreren Anhörungen des US-Kongresses machten Mitglieder des House Judiciary Committee deutlich, dass sie die beschriebenen Vorgänge nicht als neutrale Inhaltsmoderation verstehen, sondern als koordinierte Einflussnahme staatlicher Stellen und privater Plattformen auf den öffentlichen Diskurs. Der zentrale Vorwurf lautete dabei, dass sich unter dem Begriff der Moderation faktisch Mechanismen etabliert hätten, die auf eine systematische Einschränkung missliebiger Meinungsäußerungen hinauslaufen.
Diese Kritik wurde auch offen formuliert. So erklärte der Vorsitzende des House Judiciary Committee, Jim Jordan, in einer Anhörung zur Rolle staatlicher Stellen bei der Inhaltsmoderation sozialer Plattformen:
„The federal government has no business working with Big Tech to censor the speech of Americans.“ Deutsche Übersetzung:
„Die Bundesregierung hat kein Recht, gemeinsam mit Big-Tech-Unternehmen die Meinungsäußerung amerikanischer Bürger zu zensieren.“
Shellenbergers Analyse ist damit weniger als amerikanische Sonderdebatte zu lesen, sondern als Beschreibung moderner Machttechniken im digitalen Raum. Sie zeigt, wie Meinungsfreiheit nicht durch offene Verbote, sondern durch administrative, technische und ökonomische Steuerung faktisch begrenzt wird. Gerade deshalb ist sein Befund für den europäischen Kontext relevant – nicht, weil er eins zu eins übertragbar wäre, sondern weil er sichtbar macht, welche systemischen Effekte entstehen, wenn Meinungsfreiheit vom Abwehrrecht des Bürgers zu einem verwalteten Risiko erklärt wird.
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