Paradigmenwechsel: „Öffentliches Interesse“ sticht Presse- und Meinungsfreiheit aus
Medienfreiheit mit Hintertür – warum das neue EU-Gesetz einen direkten Konflikt mit Artikel 5 GG riskiert
„Eine Zensur findet nicht statt.“ Kaum ein Satz im deutschen Grundgesetz ist so absolut formuliert wie dieser in Artikel 5, Absatz 1. Nach den Erfahrungen von Propaganda und Gleichschaltung im Dritten Reich galt es 1949 als oberste Lehre: Die Presse muss frei sein, die Meinungsäußerung ungehindert, staatliche Eingriffe nur in eng definierten Ausnahmen möglich. Über 75 Jahre lang war diese Formulierung ein verlässlicher Schutzschild für Journalisten und kritische Publizisten, für redaktionell tätige Blogger galt sie gleichermaßen – zumindest in der Theorie. In der Praxis kam es auch in der Bundesrepublik zu Übergriffen auf Medien, von Razzien bei Redaktionen bis zur Beschlagnahme von Unterlagen. Doch der grundgesetzliche Maßstab blieb hoch: Eingriffe mussten auf einer klaren gesetzlichen Grundlage beruhen und durften nicht allein aus politischen Gründen erfolgen.
Mit dem European Media Freedom Act (EMFA), den das EU-Parlament am 11. April 2024 verabschiedet hat und der ab dem 8. August 2025 vollumfänglich gilt (Amtsblatt der EU), kommt nun ein neues, unionsweites Regelwerk hinzu. Offiziell soll es Journalisten besser schützen. Doch in den Tiefen des Gesetzestextes findet sich eine Ausnahmeformel, die den Geist von Artikel 5 GG frontal herausfordert.
Der genaue Wortlaut von Artikel 5 Absatz 1 und 2 GG lautet:
„Jeder hat das Recht, seine Meinung in Wort, Schrift und Bild frei zu äußern und zu verbreiten […] Die Pressefreiheit und die Freiheit der Berichterstattung durch Rundfunk und Film werden gewährleistet. Eine Zensur findet nicht statt.
Diese Rechte finden ihre Schranken in den Vorschriften der allgemeinen Gesetze, den gesetzlichen Bestimmungen zum Schutze der Jugend und in dem Recht der persönlichen Ehre.“
Diese Schranken sind nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts eng auszulegen (BVerfGE 7, 198). Als Meilenstein dafür gilt das sogenannte Lüth-Urteil. Ein Eingriff muss verhältnismäßig sein, einem legitimen Zweck dienen und darf nicht primär politische Kritik unterbinden. Die historische Motivation dafür ist klar: Das Grundgesetz wollte nie wieder eine Situation zulassen, in der der Staat beliebig festlegen kann, welche Meinungen „im Interesse der Allgemeinheit“ erlaubt sind.
Ist der EMFA nun Garant der Pressefreiheit oder nicht?
Der EMFA enthält auf den ersten Blick starke Schutzbestimmungen:
- Verbot von Überwachung von Journalisten ohne richterliche Genehmigung
- Schutz journalistischer Quellen
- Transparenzpflicht bei Medienbesitz
- Regeln für staatliche Werbegelder, um politische Einflussnahme zu verhindern
Doch in Artikel 4 Absatz 2 steht eine entscheidende Passage (Originaltext EMFA): „Die Mitgliedstaaten dürfen von den in Absatz 1 festgelegten Garantien abweichen, wenn dies durch Unionsrecht oder nationales Recht vorgesehen ist, von einer unabhängigen oder justiziellen Behörde genehmigt wurde, es sich um eine schwere Straftat handelt und die Maßnahme im allgemeinen öffentlichen Interesse erforderlich und verhältnismäßig ist.“
Der Knackpunkt: „Allgemeines öffentliches Interesse“ ist im Gesetz nicht präzise definiert. Es handelt sich um einen unbestimmten Rechtsbegriff – und solche sind in der EU-Praxis dehnbar. In der deutschen Verfassungstradition ist „Allgemeininteresse“ kein ausreichender Grund für Eingriffe in die Pressefreiheit – es braucht eine konkrete gesetzliche Grundlage und eine klar definierte Schranke.
Mit dem EMFA gilt aber:
- Die Ausnahme wird unionsrechtlich legitimiert.
- EU-Recht hat Anwendungsvorrang vor nationalem Recht (Art. 288 AEUV, EuGH-Rechtsprechung).
- Das bedeutet: Selbst wenn Artikel 5 GG einen Eingriff verbieten würde, kann er durch die EMFA-Klausel praktisch umgangen werden, sofern ein Gericht sie für EU-rechtskonform hält.
Kritische Journalisten und Blogger im Visier
Stell dir vor, der Loreley-Blog veröffentlicht eine investigativ recherchierte Enthüllung über Korruptionsverflechtungen in Brüssel. Die Veröffentlichung basiert auf internen Dokumenten, die dir ein Whistleblower zugespielt hat.
Eine nationale Behörde könnte nun argumentieren:
- Die Beschaffung der Dokumente sei Teil einer „schweren Straftat“ (z. B. Datenhehlerei).
- Die Veröffentlichung gefährde das „Allgemeininteresse“ (z. B. Sicherheit von Verhandlungsprozessen).
- Daher sei eine Durchsuchung deiner Redaktion und Beschlagnahme der Unterlagen gerechtfertigt – unter Berufung auf den EMFA-Artikel 4(2).
Unter Artikel 5 GG allein wäre dieser Eingriff schwierig zu rechtfertigen. Mittels EMFA könnte genau dies zumindest versucht und im Zweifel vom EuGH abgesegnet werden. Dass solche Ausnahmeformeln missbraucht werden können, zeigen Beispiele aus Mitgliedstaaten wie Ungarn oder Griechenland, wo Journalisten in den vergangenen Jahren systematisch überwacht oder eingeschüchtert wurden, wie die britische Zeitung „The Guardian“ berichtete. Auch in Deutschland gab es Fälle, in denen Ermittler journalistische Arbeit kriminalisierten – etwa die Razzia bei „Radio Dreyeckland“ im Jahr 2023, über die Reporter ohne Grenzen berichtete. Der Unterschied: Bisher mussten solche Eingriffe direkt an den engen Maßstäben von Artikel 5 GG gemessen werden. Mit EMFA gibt es einen neuen Prüfmaßstab – und der ist weiter gefasst.
Der EMFA wird als Fortschritt verkauft, kann aber in politisch angespannten Zeiten zum Problem werden. Der Anwendungsvorrang des EU-Rechts bedeutet, dass die Auslegung der „Allgemeininteresse“-Klausel nicht in Karlsruhe, sondern in Luxemburg beim EuGH entschieden wird. Für die Pressefreiheit in Deutschland heißt das: Artikel 5 GG bleibt bestehen, aber seine Schutzwirkung kann im Ernstfall von einem EU-Gesetz überlagert werden. Für kritische Stimmen ist das eine reale Gefahr – und ein weiterer Beweis, dass man sich nicht auf wohlklingende Formulierungen verlassen darf, sondern auf klare, justiziable Grenzen.
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