EU gegen Grundgesetz: Wenn EU-Recht geeignet ist die Meinungsfreiheit auszuhebeln

Pressefreiheit unter EU-Recht: Wo der European Media Freedom Act mit Artikel 5 GG kollidiert

Seit der Gründung der Bundesrepublik ist Artikel 5 GG das Schutzschild der Pressefreiheit. Er garantiert die freie Meinungsäußerung, die Unabhängigkeit der Medien und untersagt Zensur in eindeutigen Worten. Diese nationale Garantie wird jedoch künftig nicht mehr allein maßgeblich sein: Ab dem 8. August 2025 gilt in allen EU-Mitgliedstaaten unmittelbar der European Media Freedom Act (EMFA).

Der EMFA ist eine EU-Verordnung, keine Richtlinie. Das bedeutet: Er gilt ohne nationale Umsetzungsgesetze, hat Anwendungsvorrang gegenüber nationalem Recht und bindet alle Gerichte – auch das Bundesverfassungsgericht, soweit keine „Verfassungsidentitätsverletzung“ vorliegt.

Damit wird die deutsche Pressefreiheit zweistufig:

  1. EU-Ebene: EMFA + EU-Grundrechtecharta (Art. 11: Freiheit der Meinungsäußerung und Informationsfreiheit)
  2. Nationale Ebene: Art. 5 GG + deutsche Rechtsprechungstradition

Das Problem: Beide Ebenen klingen ähnlich, sind aber in entscheidenden Punkten unterschiedlich – und genau in diesen Unterschieden liegt das Risiko für kritische Medien.

Artikel 5 GG – Schutzumfang und Schranken

Artikel 5 GG schützt nicht nur die Pressefreiheit, sondern setzt auch enge Grenzen für deren Einschränkung:

  • Allgemeine Gesetze: Nur Gesetze, die sich nicht spezifisch gegen Meinungen richten, dürfen die Pressefreiheit beschränken.
  • Schutz der Jugend und der persönlichen Ehre: eng definierte Schutzgüter.
  • Keine Zensur: Vorabkontrolle von Inhalten ist grundsätzlich ausgeschlossen.

Die Auslegung durch das Bundesverfassungsgericht ist traditionell streng meinungs- und pressefreundlich. Politische Gründe allein gelten nicht als legitimer Eingriff. Dieses Verständnis ist tief in der deutschen Nachkriegsgeschichte verwurzelt: Nach den Erfahrungen von NS-Propaganda und Gleichschaltung sollte nie wieder ein Staat „im Interesse der Allgemeinheit“ bestimmen können, was gesagt werden darf.

Der EMFA – Überblick der relevanten Artikel

Der EMFA besteht aus 30 Artikeln, von denen einige rein organisatorisch sind (z. B. Einrichtung eines Europäischen Medienfreiheitsrats). Für den Konflikt mit Art. 5 GG sind insbesondere folgende Artikel relevant:

  • Artikel 4: Schutz journalistischer Quellen und Ausnahmen
  • Artikel 6: Schutz redaktioneller Unabhängigkeit
  • Artikel 17: Transparenz bei staatlicher Werbung und deren Verteilung
  • Artikel 28–29: Inkrafttreten und gestaffelte Anwendung

Während Artikel 6 und 17 tendenziell schützend wirken, liegt das Hauptkonfliktpotenzial in Artikel 4.

Artikel 4 EMFA – Das Schlupfloch im Quellenschutz

Artikel 4 Absatz 1 EMFA schreibt fest, dass Journalisten vor Überwachung, Durchsuchung und Beschlagnahme geschützt sind. Absatz 2 jedoch öffnet eine Ausnahme:

„Die Mitgliedstaaten dürfen von den Garantien […] abweichen, wenn dies durch Unionsrecht oder nationales Recht vorgesehen ist, von einer unabhängigen oder justiziellen Behörde genehmigt wurde, es sich um eine schwere Straftat handelt und die Maßnahme im allgemeinen öffentlichen Interesse erforderlich und verhältnismäßig ist.“
(Amtsblatt der EU, 11. April 2024)

Problematisch ist hier der unbestimmte Rechtsbegriff „allgemeines öffentliches Interesse“. Im deutschen Grundrechtsschutz ist dieser Begriff allein keine zulässige Schranke. Im EMFA hingegen ist er eine von vier kumulativen Voraussetzungen für Eingriffe.

Artikel 6 EMFA – Staatliche Eingriffe in Redaktionsentscheidungen

Artikel 6 schützt formal die redaktionelle Unabhängigkeit. Aber auch hier gibt es Hintertüren:

  • Staaten dürfen in „außergewöhnlichen Situationen“ Einfluss nehmen, wenn sie dies auf ein „legitimes Ziel“ stützen.
  • Wieder taucht das Problem der schwammigen Begrifflichkeiten auf.

Im deutschen Kontext könnte eine solche Formulierung leichter gegen das Gebot der Staatsferne der Presse (ein ungeschriebener Bestandteil von Art. 5 GG) verstoßen.

Juristischer Rahmen: Anwendungsvorrang des EU-Rechts

Der Anwendungsvorrang bedeutet, dass bei einem Konflikt zwischen EMFA und GG ein deutsches Gericht zunächst den EMFA anwenden muss – selbst wenn Art. 5 GG scheinbar ein höheres Schutzniveau bietet. Nur wenn ein Eingriff die „Verfassungsidentität“ verletzt, kann Karlsruhe eingreifen.

Beispielhafte EuGH-Entscheidungslinie: In der Rechtssache Melloni (C-399/11) stellte der EuGH klar, dass nationale Gerichte keine strengeren Grundrechte anwenden dürfen, wenn dies die Einheit und Wirksamkeit des EU-Rechts beeinträchtigen würde.

Verfassungsidentität & Ewigkeitsklausel – Karlsruhe als Bollwerk?

Die Ewigkeitsklausel (Art. 79 Abs. 3 GG) schützt u. a. die Grundprinzipien des Grundgesetzes vor Änderung – dazu gehört die freiheitlich-demokratische Grundordnung und damit auch die Pressefreiheit.

Karlsruhe könnte im Konfliktfall sagen:

  • Pressefreiheit in ihrer deutschen Auslegung ist Teil der Verfassungsidentität.
  • Der EMFA darf sie nicht schwächen.

Allerdings hat das BVerfG den „Identitätsvorbehalt“ bisher nur in sehr wenigen Fällen tatsächlich angewendet – und meist in Konstellationen mit besonders hohem verfassungsrechtlichem Gewicht (z. B. Urteil zu europäischem Haftbefehl 2005).

EuGH-Perspektive: Luxemburg wird EMFA-freundlich urteilen

Der Europäische Gerichtshof folgt in Grundrechtsfragen der EU-Grundrechtecharta. Diese ist ähnlich formuliert wie Art. 5 GG, kennt aber ebenfalls offene Begriffe wie „erforderlich in einer demokratischen Gesellschaft“ und „öffentliches Interesse“.

Historisch zeigt sich: Der EuGH neigt dazu, EU-Rechtsakte zu stützen, wenn sie eine „harmonisierende Wirkung“ haben. Das bedeutet: Im Konfliktfall ist eher zu erwarten, dass Luxemburg die EMFA-Ausnahme als verhältnismäßig einstuft – und damit den deutschen Schutzstandard relativiert.

Der EMFA wird ab August 2025 das Spiel verändern.
Für die deutsche Pressefreiheit bedeutet das:

  • Artikel 5 GG bleibt formal bestehen,
  • seine praktische Reichweite kann aber durch den Anwendungsvorrang des EU-Rechts beschnitten werden,
  • die entscheidende Auslegungshoheit liegt in Luxemburg, nicht in Karlsruhe.

Für kritische Medien – ob Blog, Investigativplattform oder klassisches Leitmedium – heißt das diplomatisch formuliert: Rechtliche Absicherung muss ab sofort umfassender gedacht werden. Wer sich nur auf Art. 5 GG verlässt, riskiert, in einem Verfahren vor dem EuGH den Kürzeren zu ziehen.

Sollte Euch dieser Artikel gefallen, dann unterstützt gerne meine Arbeit.
Bewerten Sie diesen Artikel:
Artikel die Sie auch interessieren könnte:
Paradigmenwechsel: „Öffentliches Interesse“ sticht Presse- und Meinungsfreiheit aus

Offiziell will die Europäische Union mit dem European Media Freedom Act (EMFA) den Schutz von Journalisten stärken. Doch eine unscheinbare Ausnahmeformulierung im Gesetz könnte genau das Gegenteil bewirken Mehr lesen

Von : Stephan